Sonntag, 27. April 2014

Kinder auf dem Weg ins Zehnersystem

Zwei, Zwölf, Zweiundzwanzig, Zweiunddreißig … - Liebe Leserin, versuchen Sie einmal aufzulisten, was diese Zahlwörter verbindet und was sie unterscheidet.

Jamila, zweite Klasse, hatte von ihrer Lehrerin die gleiche Frage gestellt bekommen. Und Jamila grübelte lange darüber. „Zwei und Zwölf – das sind zwei Zahlen. Zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf.“ Sie zählt an den Fingern mit. „Zehn weiter, dann habe ich Zwölf.“

Jamila gibt hier durchaus eine richtige Antwort. Aber was wäre, wenn Jamila auch in Klasse 3 wenig mehr darauf zu antworten weiß als durchzuzählen, um dann zehn als Unterschied benennen zu können? Was also, wenn die Aspekte, die Sie vermutlich als Gemeinsamkeiten und Unterschiede benannt haben, nicht gesehen werden? Aspekte wie:
  • Es gibt einen Unterschied im vollen Zehner, an der Zehnerstelle.
  • Es findet eine schrittweise Vergrößerung im Zahlenraum um einen Zehnersprung statt.
  • Jede der Zahlen größer Zehn zergliedert sich in einen Einer und einen oder mehrere Zehner.
  • Eine Zahl größer Zwölf wird in der Weise gesprochen, dass erst die Einerstelle und dann die Zehner benannt werden, wobei die Zehner sich dadurch kennzeichnen, dass sie sprachlich auf -ig enden.

Wenn man sich mit Kindern auseinandersetzt, die gravierende Rechenschwierigkeiten zeigen, also eine hohe Fehleranzahl beim Addieren und Subtrahieren zeigen, fällt bei vielen auf, dass sie diese Aufgaben wie Jamila zählend in Einerschritten bewältigen. Es fehlt eine Einsicht in Strukturzusammenhänge. 3+2 und 3+22 werden also z. B. als grundlegend verschiedene Aufgaben aufgefasst, wobei bei der ersten Aufgabe zwei Zählschritte von der Drei ab zu gehen sind, und 22 Zählschritte bei der zweiten Aufgabe. Eine solche Vorgehensweise ist kognitiv sehr ressourcenintensiv und birgt dabei die Gefahr des Verzählens. So vertun sich einige Kinder um Eins, weil sie von der Drei ab 22 Schritte weiterzählen, dabei aber die Drei schon als ersten Dazuzähl-Schritt ansehen.
Grund ist zumeist eine fehlende Einsicht in den Zahlbegriff mit seinen Zahlzerlegungen und dem Verständnis der Kardinalität von Zahlen (also: eine Zahl beschreibt eine Anzahl), die sich auch in der Zehnerbündelung ausdrücken kann: Zehn bedeutet, ich fasse zehn Einer zu einem Zehner zusammen. Wir können also im Stellenwertsystem 0 bis 9 Einer benennen und wir können 0 bis 9 volle Zehner haben. Voraussetzung für diese Einsicht ist, den Zahlbegriff bis 10 begriffen zu haben.

Eine solche Zahlbegriffsschwäche, die zählende Rechner aufweisen, ist nach Grissemann und Weber (1996, 15f.) eine Ursache für fingerfixiertes Rechnen, also ein »ungebührlich lange Zeit« an Fingern als Rechenhilfe gebundenes Rechnen (Lobeck, 1992, 68), das sich als resistent »gegen jegliches Lehrerbemühen« erweist (Lorenz, 1989, 8). Moog (1993) ermittelte so auch einen hoch signifikanten Zusammenhang zwischen der Additionsleistung und der Abhängigkeit von Anschauungshilfen, zu der das Fingerrechnen neben dem Abzählen an konkreten Elementen gehört. Eine Folgeuntersuchung replizierte dieses Ergebnis (Schulz, van Bebber & Moog, 1998): In der Gruppe mit wenig Fehlern bei der Addition befanden sich auch signifikant weniger anschauungsgebundene Rechner als in der leistungsschwächeren Gruppe mit vielen Fehlern. Diese Kinder zeigen demnach Lernprobleme im Übergang zum internen Operieren. Das Rechnen bleibt hier auf dem Niveau des Zählvorgangs an konkreten Objekten stehen.

Zwar überwinden aus dieser Gruppe viele Kinder mit dem Alter den offensichtlichen Fingergebrauch (zum Teil aus Scham), es bleibt jedoch beim Einerschritt-Durchzählen der Aufgaben.

Wie aber führt man sie davon weg? Wenn wir uns mit dieser Frage beschäftigen wollen, dann ist es wichtig sich vor Augen zu führen, mit welcher Schülergruppe wir uns beschäftigen. Es geht hierbei um Kinder, die im Vergleich zu ihren Mitschülern beim Addieren und Subtrahieren weniger Aufgaben schaffen und mehr Fehler dabei zeigen. Um überhaupt Lösungen zu erhalten, rechnen sie zählend. Es geht also nicht darum, den mathematischen Anfangsunterricht zu konzipieren, um präventiv einen zählenden Zugang zu vermeiden, sondern sich mit den Schülern zu beschäftigen, die sich bereits kompensatorisch mühen, indem sie zählen.

Diesen Schülern Hilfestellung anzubieten, bedeutet ihre zählende Arbeitsweise aufzugreifen, um sie davon wegführen zu können. Es bedeutet nicht, das Zählen ersatzlos zu verbieten, sondern das zählende Rechnen zunächst zu systematisieren, um dann eine Ablösung davon anzubahnen. Der Einsatz geeigneter Veranschaulichungsmittel dient dabei dem Ziel, eine solche Systematisierung zu erwirken. Die Veranschaulichungsmittel dienen nun dazu, den „kindlichen Ablösungsprozess vom zählenden Rechnen zu unterstützen“ (Radatz, u. a., 1996, S. 40).

Mit dieser Formulierung wird vor allem eins betont:
Die Ablösung kann nur vom Kind geleistet werden. Das Veranschaulichungsmittel, das es unter Anleitung des Lehrers verwendet, kann es nur dabei unterstützen. Unterstützung bedeutet in diesem Fall, dass das Arbeitsmittel dem Kind eine Alternative bietet. Es soll die Einsicht gewinnen, dass man mit dessen Hilfe sicher und flink ohne Zählen rechnen kann.

Somit sollte dieses Arbeitsmittel also zur Systematisierung des Zahlaufbaus beitragen:
  • Einzelne zählbare Einheiten müssen am Arbeitsmittel erkennbar sein, damit zunächst auch zählendes Rechnen ermöglicht wird. Die bisherigen Erfahrungen der Kinder beruhen in der Regel auf einem Abzählen an den Fingern. Lässt nun das Arbeitsmittel zählendes Rechnen zu, so ermöglicht es allen Schülern, ihr Vorwissen einzubringen und eigene Strategien zunächst beizubehalten bzw. zu korrigieren. Nur so kann im Kind eine positive Grundeinstellung zum Arbeitsmittel aufgebaut werden, welche die Voraussetzung für die Übernahme der Strukturen ist.
  • Anzahlen bis 5 müssen auf dem Arbeitsmittel simultan erfasst werden können.
  • Eine Zehnerstrukturierung sollte durch das Arbeitsmittel möglich sein, da unser Zahlsystem ein dekadisches Stellenwertsystem ist. Das Arbeitsmittel sollte es ermöglichen, dass der Zehner ohne Zählen als Ganzheit wahrgenommen wird. So können auch die Anzahlen 9 (eins weniger 10) und 8 (zwei weniger 10) aber auch 29 (eins weniger 30) quasi-simultan erfasst werden.

Bei den Anzahlen 6 und 7 muss jedoch gezählt werden, da ihr Bezug zur 10 nicht mehr offensichtlich und augenscheinlich ist. Deshalb bietet sich eine weitere Unterteilung nach 5 an. Krauthausen spricht von der „Kraft der 5“ (Krauthausen, 1995, S. 87)
Welche Vorteile bietet die 5?
  • Größere Anzahlen können quasi-simultan erfasst werden, z.B. 6 = 5 + 1; 7 = 5 + 2 aber auch 73 = 50 + 20 + 3. Deshalb sollte eine Unterteilung jeweils nach 5 Einzelnen, aber auch nach 50 getroffen werden.
  • Die Zahlzerlegungen können auf die 5 bezogen werden.
  • Die Fünferstruktur ist auch auf größere Zahlenräume übertragbar.

Abb.: Material aus dem Hamburger Zahlbegriffs- und Rechenaufbau (HamZaRa)
Ein Beispiel für den geeigneten Einsatz von Veranschaulichungen ist das Material des Programms HamZaRa. Es wurde von Heidrun Claus und Jochen Peter zur Förderung des Zahl- und Rechenverständnisses im Zahlenraum bis 10 entwickelt. Da die Finger ein natürliches und immer verfügbares Hilfsmittel zum Rechnen sind und den Zehnerraum in zwei Fünfern darstellen, schlagen die Autoren vor, mit den Fingern zu rechnen – aber richtig! „Tatsächlich sind sie hervorragend geeignet, die mathematischen Sachverhalte und Zusammenhänge, die in der Auseinandersetzung mit dem Zahlenraum bis 10 zu erlernen sind, gegenständlich darzustellen“ (Claus/Peter 2005, 20).

Die Fingerbilder sollen in visueller Form deutlich machen, dass in der jeweiligen Zahl andere, kleinere Zahlen enthalten sind. Das Fingerbild der Drei zeigt z.B. sofort, dass zur Fünf noch zwei Finger fehlen und bis zur Zehn dagegen noch sieben Finger fehlen. An den Fingerbildern werden sozusagen Beziehungen zwischen den Zahlen ablesbar. „Damit werden nicht nur wichtige quantitative Beziehungen dieser Zahlen anschaulich erfassbar, sie tragen zugleich unmittelbar zur Prägnanz und Einprägsamkeit des jeweiligen Mengenbildes bei (Claus/Peter, 2005 21).

Die Strukturierung, die mit diesem oder anderen geeignetem Material vorgegeben wird, ist also eine wichtige Voraussetzung dafür, dass das Kind vom zählenden Rechnen weggeführt wird und in ihm geeignete visuelle Vorstellungsbilder entstehen. „Hilfe können nur die Arbeitsmittel und Veranschaulichungen bieten, die die mathematische Struktur möglichst klar widerspiegeln, also der Vorstellung nützlich sind und zum Aufbau mentaler Bilder beitragen.“ (Scherer, 1995, S. 409).

Fünfer- und Zehnerstrukturierung sind demnach Zielsetzungen, die mit dem Einsatz von Veranschaulichungsmitteln angebahnt werden sollen. Es ist das Arbeiten mit den Darstellungsmitteln, das unter Anleitung die Schüler vom zunächst noch zählendem Zugang zum Rechnen zu ökonomischeren Verfahren führen soll.
  • Beispiel: 17 + 8 =
Statt nun acht einzelne Schritte von der 17 aus weiterzugehen, ist es hilfreich zu erkennen, dass wir einen vollen Zehner haben und einem Fünfer plus zwei (= 17), zu denen ein Achter kommen soll. Die Zwei kann zu einem weiteren Fünfer aufgefüllt werden, indem ich von den Acht drei dazufüge. Dann habe ich zwei nun Fünfer, also einen weiteren Zehner. Es verbleiben von den Acht noch fünf, die zu den jetzt zwei Zehnern dazukommen. Also ist das Ergebnis 25.
Das Argument, dieses Vorgehen sei doch komplexer als in Einerschritten weiter zu gehen, verkennt, dass es klar an Vorteil gewinnt, wenn der zweite Summand nicht Acht sondern z. B. 57 heißt.

Erst die Diskussion der Lösungswege anhand der Veranschaulichungsmittel schafft eine vertiefte Einsicht in mathematische Strukturen. Bei der Ergänzungsaufgabe von der 28 aus hoch bis zur 54 zu zählen, ist dann im Förderprozess vielleicht irgendwann einmal eine Methode, die der Schüler zwar als nicht falsch erkennt, aber eine, die als deutlich komplizierter betrachtet wird, als die Nutzung von Zahlzusammenhängen und der Nutzung von Fünfer- und Zehnerstrukturen.


Literatur:
Claus, H. & Peter, J. (2005). Finger, Bilder, Rechnen. Förderung des Zahlverständnisses im Zahlenraum bis 10. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Grissemann, H. & Weber, A. (1996). Grundlagen und Praxis der Dyskalkulietherapie. 2. Auflage. Bern: Huber.
Krauthausen, G. (1995). Die „Kraft der Fünf“ und das denkende Rechnen - Zur Bedeutung tragfähiger Vorstellungsbilder im mathematischen Anfangsunterricht. In: G. N. Müller/E. C. Wittmann (Hg.): Mit Kindern rechnen, S. 87-108. Bd. 96. Frankfurt/M.: Arbeitskreis Grundschule.
Lobeck, A. (1992). Rechenschwäche. Geschichtlicher Rückblick, Theorie und Therapie. Luzern: Edition SZH.
Lorenz, J.H. (1989). Rechenstörungen früh erkannt und ausgeglichen. Die Grundschule, 12, 33-35.
Moog, W. (1993a). Schwachstellen beim Addieren - Eine Erhebung bei lernbehinderten Sonderschülern. Zeitschrift für Heilpädagogik, 44, 534-554.
Radatz, H., Schipper, W., Dröge, R. & Ebeling, A. (1996). Handbuch für den Mathematikunterricht 1. Schuljahr. Hannover: Schroedel.
Scherer, P. (1995). Entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht der Schule für Lernbehinderte. Heidelberg. Schindele.
Schulz, A., van Bebber, N. & Moog, W. (1998). Mathematische Basiskompetenzen lernbehinderter Sonderschüler - Eine Erhebung mit dem Dortmunder Rechentest für die Eingangsstufe. Zeitschrift für Heilpädagogik, 49, 402-411.