Zwei,
Zwölf, Zweiundzwanzig, Zweiunddreißig … - Liebe Leserin,
versuchen Sie einmal aufzulisten, was diese Zahlwörter verbindet und
was sie unterscheidet.
Jamila,
zweite Klasse, hatte von ihrer Lehrerin die gleiche Frage gestellt
bekommen. Und Jamila grübelte lange darüber. „Zwei und Zwölf –
das sind zwei Zahlen. Zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht,
neun, zehn, elf, zwölf.“ Sie zählt an den Fingern mit. „Zehn
weiter, dann habe ich Zwölf.“
Jamila
gibt hier durchaus eine richtige Antwort. Aber was wäre, wenn Jamila
auch in Klasse 3 wenig mehr darauf zu antworten weiß als
durchzuzählen, um dann zehn als Unterschied benennen zu können? Was
also, wenn die Aspekte, die Sie vermutlich als Gemeinsamkeiten und
Unterschiede benannt haben, nicht gesehen werden? Aspekte wie:
- Es gibt einen Unterschied im vollen Zehner, an der Zehnerstelle.
- Es findet eine schrittweise Vergrößerung im Zahlenraum um einen Zehnersprung statt.
- Jede der Zahlen größer Zehn zergliedert sich in einen Einer und einen oder mehrere Zehner.
- Eine Zahl größer Zwölf wird in der Weise gesprochen, dass erst die Einerstelle und dann die Zehner benannt werden, wobei die Zehner sich dadurch kennzeichnen, dass sie sprachlich auf -ig enden.
- …
Wenn
man sich mit Kindern auseinandersetzt, die gravierende
Rechenschwierigkeiten zeigen, also eine hohe Fehleranzahl beim
Addieren und Subtrahieren zeigen, fällt bei vielen auf, dass sie
diese Aufgaben wie Jamila zählend in Einerschritten bewältigen. Es
fehlt eine Einsicht in Strukturzusammenhänge. 3+2 und 3+22 werden
also z. B. als grundlegend verschiedene Aufgaben aufgefasst, wobei
bei der ersten Aufgabe zwei Zählschritte von der Drei ab zu gehen
sind, und 22 Zählschritte bei der zweiten Aufgabe. Eine solche
Vorgehensweise ist kognitiv sehr ressourcenintensiv und birgt dabei
die Gefahr des Verzählens. So vertun sich einige Kinder um Eins,
weil sie von der Drei ab 22 Schritte weiterzählen, dabei aber die
Drei schon als ersten Dazuzähl-Schritt ansehen.
Grund
ist zumeist eine fehlende Einsicht in den Zahlbegriff mit seinen
Zahlzerlegungen und dem Verständnis der Kardinalität von Zahlen
(also: eine Zahl beschreibt eine Anzahl), die sich auch in der
Zehnerbündelung ausdrücken kann: Zehn bedeutet, ich fasse zehn
Einer zu einem Zehner zusammen. Wir können also im Stellenwertsystem
0 bis 9 Einer benennen und wir können 0 bis 9 volle Zehner haben.
Voraussetzung für diese Einsicht ist, den Zahlbegriff bis 10
begriffen zu haben.
Eine
solche Zahlbegriffsschwäche, die zählende Rechner aufweisen, ist
nach Grissemann und Weber (1996, 15f.) eine Ursache für
fingerfixiertes Rechnen, also ein »ungebührlich lange Zeit« an
Fingern als Rechenhilfe gebundenes Rechnen (Lobeck, 1992, 68), das
sich als resistent »gegen jegliches Lehrerbemühen« erweist
(Lorenz, 1989, 8). Moog (1993) ermittelte so auch einen hoch
signifikanten Zusammenhang zwischen der Additionsleistung und der
Abhängigkeit von Anschauungshilfen, zu der das Fingerrechnen neben
dem Abzählen an konkreten Elementen gehört. Eine Folgeuntersuchung
replizierte dieses Ergebnis (Schulz, van Bebber & Moog, 1998): In
der Gruppe mit wenig Fehlern bei der Addition befanden sich auch
signifikant weniger anschauungsgebundene Rechner als in der
leistungsschwächeren Gruppe mit vielen Fehlern. Diese Kinder zeigen
demnach Lernprobleme im Übergang zum internen Operieren. Das Rechnen
bleibt hier auf dem Niveau des Zählvorgangs an konkreten Objekten
stehen.
Zwar
überwinden aus dieser Gruppe viele Kinder mit dem Alter den
offensichtlichen Fingergebrauch (zum Teil aus Scham), es bleibt
jedoch beim Einerschritt-Durchzählen der Aufgaben.
Wie
aber führt man sie davon weg? Wenn wir uns mit dieser Frage
beschäftigen wollen, dann ist es wichtig sich vor Augen zu führen,
mit welcher Schülergruppe wir uns beschäftigen. Es geht hierbei um
Kinder, die im Vergleich zu ihren Mitschülern beim Addieren und
Subtrahieren weniger Aufgaben schaffen und mehr Fehler dabei zeigen.
Um überhaupt Lösungen zu erhalten, rechnen sie zählend. Es geht
also nicht darum, den mathematischen Anfangsunterricht zu
konzipieren, um präventiv einen zählenden Zugang zu vermeiden,
sondern sich mit den Schülern zu beschäftigen, die sich bereits
kompensatorisch mühen, indem sie zählen.
Diesen
Schülern Hilfestellung anzubieten, bedeutet ihre zählende
Arbeitsweise aufzugreifen, um sie davon wegführen zu können. Es
bedeutet nicht, das Zählen ersatzlos zu verbieten, sondern das
zählende Rechnen zunächst zu systematisieren, um dann eine Ablösung
davon anzubahnen. Der Einsatz geeigneter Veranschaulichungsmittel
dient dabei dem Ziel, eine solche Systematisierung zu erwirken. Die
Veranschaulichungsmittel dienen nun dazu, den „kindlichen
Ablösungsprozess vom zählenden Rechnen zu unterstützen“ (Radatz,
u. a., 1996, S. 40).
Mit
dieser Formulierung wird vor allem eins betont:
Die
Ablösung kann nur vom Kind geleistet werden. Das
Veranschaulichungsmittel, das es unter Anleitung des Lehrers
verwendet, kann es nur dabei unterstützen. Unterstützung bedeutet
in diesem Fall, dass das Arbeitsmittel dem Kind eine Alternative
bietet. Es soll die Einsicht gewinnen, dass man mit dessen Hilfe
sicher und flink ohne Zählen rechnen kann.
Somit
sollte dieses Arbeitsmittel also zur Systematisierung des Zahlaufbaus
beitragen:
- Einzelne zählbare Einheiten müssen am Arbeitsmittel erkennbar sein, damit zunächst auch zählendes Rechnen ermöglicht wird. Die bisherigen Erfahrungen der Kinder beruhen in der Regel auf einem Abzählen an den Fingern. Lässt nun das Arbeitsmittel zählendes Rechnen zu, so ermöglicht es allen Schülern, ihr Vorwissen einzubringen und eigene Strategien zunächst beizubehalten bzw. zu korrigieren. Nur so kann im Kind eine positive Grundeinstellung zum Arbeitsmittel aufgebaut werden, welche die Voraussetzung für die Übernahme der Strukturen ist.
- Anzahlen bis 5 müssen auf dem Arbeitsmittel simultan erfasst werden können.
- Eine Zehnerstrukturierung sollte durch das Arbeitsmittel möglich sein, da unser Zahlsystem ein dekadisches Stellenwertsystem ist. Das Arbeitsmittel sollte es ermöglichen, dass der Zehner ohne Zählen als Ganzheit wahrgenommen wird. So können auch die Anzahlen 9 (eins weniger 10) und 8 (zwei weniger 10) aber auch 29 (eins weniger 30) quasi-simultan erfasst werden.
Bei
den Anzahlen 6 und 7 muss jedoch gezählt werden, da ihr Bezug zur 10
nicht mehr offensichtlich und augenscheinlich ist. Deshalb bietet
sich eine weitere Unterteilung nach 5 an. Krauthausen spricht von der
„Kraft der 5“ (Krauthausen, 1995, S. 87)
Welche
Vorteile bietet die 5?
- Größere Anzahlen können quasi-simultan erfasst werden, z.B. 6 = 5 + 1; 7 = 5 + 2 aber auch 73 = 50 + 20 + 3. Deshalb sollte eine Unterteilung jeweils nach 5 Einzelnen, aber auch nach 50 getroffen werden.
- Die Zahlzerlegungen können auf die 5 bezogen werden.
- Die Fünferstruktur ist auch auf größere Zahlenräume übertragbar.
Abb.:
Material aus dem Hamburger Zahlbegriffs- und Rechenaufbau (HamZaRa)
Ein
Beispiel für den geeigneten Einsatz von Veranschaulichungen ist das
Material des Programms
HamZaRa. Es wurde
von Heidrun Claus und Jochen Peter zur Förderung des Zahl- und
Rechenverständnisses im Zahlenraum bis 10 entwickelt. Da die Finger
ein natürliches und immer verfügbares Hilfsmittel zum Rechnen sind
und den Zehnerraum in zwei Fünfern darstellen, schlagen die Autoren
vor, mit den Fingern zu rechnen – aber richtig! „Tatsächlich
sind sie hervorragend geeignet, die mathematischen Sachverhalte und
Zusammenhänge, die in der Auseinandersetzung mit dem Zahlenraum bis
10 zu erlernen sind, gegenständlich darzustellen“ (Claus/Peter
2005, 20).
Die
Fingerbilder sollen in visueller Form deutlich machen, dass in der
jeweiligen Zahl andere, kleinere Zahlen enthalten sind. Das
Fingerbild der Drei zeigt z.B. sofort, dass zur Fünf noch zwei
Finger fehlen und bis zur Zehn dagegen noch sieben Finger fehlen. An
den Fingerbildern werden sozusagen Beziehungen zwischen den Zahlen
ablesbar. „Damit werden nicht nur wichtige quantitative Beziehungen
dieser Zahlen anschaulich erfassbar, sie tragen zugleich unmittelbar
zur Prägnanz und Einprägsamkeit des jeweiligen Mengenbildes bei
(Claus/Peter, 2005 21).
Die
Strukturierung, die mit diesem oder anderen geeignetem Material
vorgegeben wird, ist also eine wichtige Voraussetzung dafür, dass
das Kind vom zählenden Rechnen weggeführt wird und in ihm geeignete
visuelle Vorstellungsbilder entstehen. „Hilfe können nur die
Arbeitsmittel und Veranschaulichungen bieten, die die mathematische
Struktur möglichst klar widerspiegeln, also der Vorstellung nützlich
sind und zum Aufbau mentaler Bilder beitragen.“ (Scherer, 1995, S.
409).
Fünfer-
und Zehnerstrukturierung sind demnach Zielsetzungen, die mit dem
Einsatz von Veranschaulichungsmitteln angebahnt werden sollen. Es ist
das Arbeiten mit den Darstellungsmitteln, das unter Anleitung die
Schüler vom zunächst noch zählendem Zugang zum Rechnen zu
ökonomischeren Verfahren führen soll.
- Beispiel: 17 + 8 =
Statt
nun acht einzelne Schritte von der 17 aus weiterzugehen, ist es
hilfreich zu erkennen, dass wir einen vollen Zehner haben und einem
Fünfer plus zwei (= 17), zu denen ein Achter kommen soll. Die Zwei
kann zu einem weiteren Fünfer aufgefüllt werden, indem ich von den
Acht drei dazufüge. Dann habe ich zwei nun Fünfer, also einen
weiteren Zehner. Es verbleiben von den Acht noch fünf, die zu den
jetzt zwei Zehnern dazukommen. Also ist das Ergebnis 25.
Das
Argument, dieses Vorgehen sei doch komplexer als in Einerschritten
weiter zu gehen, verkennt, dass es klar an Vorteil gewinnt, wenn der
zweite Summand nicht Acht sondern z. B. 57 heißt.
Erst
die Diskussion der Lösungswege anhand der Veranschaulichungsmittel
schafft eine vertiefte Einsicht in mathematische Strukturen. Bei der
Ergänzungsaufgabe von der 28 aus hoch bis zur 54 zu zählen, ist
dann im Förderprozess vielleicht irgendwann einmal eine Methode, die
der Schüler zwar als nicht falsch erkennt, aber eine, die als
deutlich komplizierter betrachtet wird, als die Nutzung von
Zahlzusammenhängen und der Nutzung von Fünfer- und
Zehnerstrukturen.
Literatur:
Claus,
H. & Peter, J. (2005). Finger, Bilder, Rechnen. Förderung des
Zahlverständnisses im Zahlenraum bis 10. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht.
Grissemann,
H. & Weber, A. (1996). Grundlagen und Praxis der
Dyskalkulietherapie. 2. Auflage. Bern: Huber.
Krauthausen,
G. (1995). Die „Kraft der Fünf“ und das denkende Rechnen - Zur
Bedeutung tragfähiger Vorstellungsbilder im mathematischen
Anfangsunterricht. In: G. N. Müller/E. C. Wittmann (Hg.): Mit
Kindern rechnen, S. 87-108. Bd. 96. Frankfurt/M.: Arbeitskreis
Grundschule.
Lobeck,
A. (1992). Rechenschwäche. Geschichtlicher Rückblick, Theorie und
Therapie. Luzern: Edition SZH.
Lorenz,
J.H. (1989). Rechenstörungen früh erkannt und ausgeglichen. Die
Grundschule, 12, 33-35.
Moog,
W. (1993a). Schwachstellen beim Addieren - Eine Erhebung bei
lernbehinderten Sonderschülern. Zeitschrift für Heilpädagogik, 44,
534-554.
Radatz,
H., Schipper, W., Dröge, R. & Ebeling, A. (1996). Handbuch für
den Mathematikunterricht 1. Schuljahr. Hannover: Schroedel.
Scherer,
P. (1995). Entdeckendes Lernen im Mathematikunterricht der Schule für
Lernbehinderte. Heidelberg. Schindele.
Schulz,
A., van Bebber, N. & Moog, W. (1998). Mathematische
Basiskompetenzen lernbehinderter Sonderschüler - Eine Erhebung mit
dem Dortmunder Rechentest für die Eingangsstufe. Zeitschrift für
Heilpädagogik, 49, 402-411.
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